Die Methode der Funktionalen Resonanzanalyse als Instrument zur Bewältigung der Komplexität im Gesundheitswesen

Veröffentlicht: Jan. 2025

Das Gesundheitswesen ist ein Beispiel für ein komplexes soziotechnisches System mit dem Ziel der individuell bestmöglichen Behandlung bei kosteneffizientem Einsatz moderner Technik. Die Fehleranfälligkeit, insbesondere bei der Versorgung kritisch kranker Patienten, ist hoch. Um unerwünschte Ereignisse im Sinne einer Qualitätsoptimierung zu reduzieren und zu vermeiden, werden Instrumente des klinischen Risikomanagements wie zum Beispiel Critical Incident Reporting Systeme oder Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen eingesetzt. Der klassische Ansatz zur Optimierung der Patientensicherheit konzentriert sich dabei auf die Vermeidung inakzeptabler Risiken und die Reduktion inakzeptabler Ergebnisse. Patientensicherheit wird in diesem Verständnis als Abwesenheit unerwünschter Ereignisse definiert. Ein hohes Sicherheitsniveau ist erreicht, wenn wenige oder keine unerwünschten Ereignisse oder Schäden auftreten (Safety-I).

Bis heute steht das retrospektive Lernen aus Fehlern und Zwischenfällen im Vordergrund. Trotz vieler Fortschritte ist die Zahl vermeidbarer unerwünschter Ereignisse im deutschen Gesundheitswesen nach wie vor sehr hoch; systemweite Veränderungen werden nur begrenzt umgesetzt. Laut Weißbuch wird die Zahl der vermeidbaren Todesfälle von Patientinnen und Patienten in Deutschland auf 20.000 pro Jahr geschätzt. Fehler und Zwischenfälle machen im medizinischen Alltag nur einen geringen Anteil aus, verglichen mit gut bewältigten schwierigen Aufgaben, positiven Verläufen und Überraschungen. Diese Erkenntnis bedeutet, dass der Fokus auf positive Ereignisse und erfolgreiche Patientenbehandlungen gelegt werden sollte. Dieser Ansatz liegt Safety-II zugrunde und betont das Lernen aus erfolgreichen Alltagssituationen. Dieser Perspektivenwechsel wird durch die zunehmende Komplexität der Versorgung notwendig. Die Einhaltung von Leitlinien und Prozessen ist bei Routinetätigkeiten durchaus möglich. In der Patientenversorgung wird dies jedoch durch die zunehmende Komplexität deutlich erschwert. Das Gesundheitssystem ist hochkomplex und wird durch eine Vielzahl von Elementen bestimmt, die in zahlreichen, teilweise unvorhersehbaren Wechselwirkungen stehen. Es ist gekennzeichnet durch ein soziotechnisches System, das komplexe organisatorische Abläufe durch interdisziplinäre und multiprofessionelle Zusammenarbeit als soziales Subsystem umfasst, und ein technisches Subsystem, das moderne technische Geräte, Automatisierung und technisierte Behandlungsmethoden umfasst. Die optimale Integration beider Teilsysteme ist entscheidend für die Gesamtleistung. Die Schwere der Erkrankungen der Patientinnen und Patienten (Multimorbidität) sowie die damit einhergehende Mehrfachmedikation (Polypharmazie) erhöhen die Komplexität zusätzlich. In der täglichen Praxis zeigt sich, dass auch außerhalb von Akutsituationen trotz klarer Ablaufvorgaben entscheidende Maßnahmen nicht oder nicht rechtzeitig durchgeführt werden. Die Gründe hierfür sind vielfältig, z. B. ein Überangebot an unterschiedlichen Leitlinien und komplizierte Handlungsanweisungen. Eine immer stärkere Standardisierung menschlichen Handelns allein erscheint daher nicht erfolgversprechend. Soziotechnische Systeme wie das Gesundheitswesen müssen lern- und anpassungsfähig sein.

Neuere Ansätze verfolgen einen systemischen Ansatz, der beispielhaft in den beiden Publikationen von Speer und Mitarbeitern (1, 2) dargestellt wird. Sie fokussieren auf die Ursachen der überwiegend positiven klinischen Prozesse. Mit der Methode der funktionalen Resonanzanalyse (FRAM) wird die tatsächliche Arbeit im Vergleich zur geplanten Arbeit modelliert. Durch ein besseres Prozessverständnis sollen Maßnahmen abgeleitet werden, die die Fähigkeit des Systems stärken, seine Ziele auch bei Veränderungen und Störungen zu erreichen. Ein zentraler Indikator für Komplexität ist die Diff erenz zwischen Vorstellungen über Versorgungsprozesse ('work-as-imagined', WAI) und der realen Vorgänge ('work-as-done', WAD). Bei der Planung, dem Design, dem Management oder der Analyse von Systemen wird oft stillschweigend davon ausgegangen, dass die Vorgänge im System bekannt und verstanden sind. Diese Überzeugung beruht auf bisherigen Erfahrungen, dem Vergleich mit anderen Systemen und der Beschreibung in Dokumenten wie Layouts, Organigrammen, Stellenbeschreibungen oder Standards. Vorstellungen über das System (WAI) sind vereinfacht und veralten mehr oder weniger schnell. WAD hingegen beschreibt - näherungsweise - die tatsächlichen Abläufe im System. Obwohl WAI und WAD nie exakt übereinstimmen, spielt dies in einer einfachen, nicht komplexen Arbeitswelt praktisch keine Rolle, da die Abweichungen tolerierbar sind. In komplexen Systemen kann der Unterschied zwischen WAI und WAD jedoch erheblich sein. Ein wesentlicher Grund für den Unterschied liegt in den ständigen Anpassungen der Handlungen an die situativen Gegebenheiten im System. Diese Anpassungen werden ausgelöst durch sich ständig ändernde Anforderungen und Rahmenbedingungen wie Personalwechsel, technische Ausfälle, Wartezeiten auf Leistungen und Lieferungen oder unerwartetes Patientenverhalten sowie unvollständige und widersprüchliche Informationen.

Die FRAM ist eine etablierte Methode aus der Sicherheitsforschung, die explizit für komplexe soziotechnische Systeme entwickelt wurde und sowohl prospektiv zur Systemanalyse als auch retrospektiv zur Störfallanalyse bereits im Gesundheitswesen sowie in vielen anderen Industriezweigen (u. a. Schiffsverkehr, Luftfahrt, Öl- und Gasindustrie) eingesetzt wurde. Beispiele für die erfolgreiche Anwendung der FRAM im Gesundheitswesen beziehen sich u. a. auf die Arbeit in der Notaufnahme, die Einführung klinischer Leitlinien und die intravenöse Flüssigkeitstherapie auf einer Intensivstation. Die Methode basiert auf der Kernidee der Erfassung von Alltagshandlungen (WAD). WAD ist grundsätzlich durch Variabilität gekennzeichnet, da ständig Anpassungen an situative Gegebenheiten erforderlich sind.

Das Vorgehen zur Durchführung einer FRAM gliedert sich in folgende Schritte:

1. Definition, Abgrenzung, Erkundung und Dokumentation des Prozesses 2. Identifikation der Funktionen des Prozesses
3. Interviews
4. Auswertung, Dokumentation und Modellierung
5. Kommunikative Validierung des Modells

Interviews mit Personen, die die betreffende Funktion im Rahmen ihrer Tätigkeit regelmäßig ausüben, bilden den Kern der Datenerhebung zur Erweiterung der Informationsbasis. Sie werden als halboffene, leitfadengestützte Interviews durchgeführt. Ihnen gehen in der Regel Ortsbegehungen, Dokumentenanalysen und ggf. in-situ-Simulationen voraus. Die FRAM modelliert die gesammelten Informationen des Prozesses als nach außen abgrenzbare Systeme miteinander verbundener Funktionen, die durch hexagonale Symbole darstellt werden. Jede Ecke des Hexagons repräsentiert einen bestimmten Aspekt. Die Aspekte bilden zusammen die Eigenschaften einer Funktion: Input (I), Start einer Funktion; Output (O), Ergebnis einer Funktion; Precondition (P, Vorbedingung), Vorbedingung für den Start einer Funktion; Resource (R, Ressource), Ressourcen, die für die Durchführung einer Funktion benötigt werden (Material, Geräte, Personal); Time (T, Zeit), alle zeitlichen Aspekte; Control (C, Kontrolle), alle Einflüsse, die den Ablauf der Funktion steuern. Die spätere Evaluation der FRAM erfolgt durch die befragte Zielgruppe (also z. B. die Mitarbeitenden der betreffenden Abteilung) in einem moderierten Workshop (kommunikative Validierung). Die modellhafte grafische Darstellung der Ergebnisse aus den Interviews mit den Mitarbeitenden verdeutlicht, wie vielfältig die untersuchten Funktionen miteinander verknüpft sein können und welche Abhängigkeiten sich bei Veränderungen einzelner Funktionen für den Gesamtprozess ergeben. Dadurch können für einzelne Funktionen Abweichungen zwischen dem tatsächlichen Alltagshandeln (WAD) und der vorgestellten Handlung (WAI) identifiziert werden. Die FRAM ermöglicht wertvolle Einblicke in die Funktionsweise komplexer soziotechnischer Systeme, die weit über klassische lineare Methoden hinausgehen. Durch die gewonnene Sensibilisierung für betriebliche Abläufe und die damit mögliche dynamische Betrachtung der Wechselwirkungen innerhalb des Systems ist es möglich, spezifische Maßnahmen abzuleiten, die resilientes Verhalten fördern und kritische Variabilität reduzieren und somit einen Beitrag zur Erhöhung der Patientensicherheit und Effizienz leisten können. Statt immer umfangreicherer Standardisierung und der Jagd nach menschlichen Fehlern müssen wir die Quellen für Resilienz identifizieren und sie in unseren Prozessen stärken. Ein erprobtes Hilfsmittel dafür ist die FRAM aus dem Methodenrepertoire von Safety-II.

Das strategische Ziel des Patientensicherheitsplans der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für den Zeitraum 2021-2030 ist das Konzept hochzuverlässiger Systeme. Der Leitgedanke dieses Konzepts ist die Resilienz. Diese wird definiert als die Fähigkeit einer Organisation, vor, während oder nach einer Störung einen stabilen und sicheren Zustand aufrechtzuerhalten oder zumindest schnellstmöglich in diesen zurückzukehren. Resiliente Organisationen sind demnach besonders geeignet, die Patientensicherheit in einem komplexen Arbeitsumfeld zu gewährleisten. Der systemische Ansatz von Safety-II ist eine notwendige Antwort auf die zunehmende Komplexität im Gesundheitswesen. Um effektiv entscheiden und handeln zu können, ist es entscheidend, Komplexität zu verstehen und zu bewältigen. Die Resilienz medizinischer Behandlungsteams ermöglicht es ihnen, Krisen zu bewältigen und die Funktion des soziotechnischen Systems auch bei Störungen und unerwarteten Umständen entschlossen aufrecht zu erhalten. Die Anwendungsmöglichkeiten von Safety-II erstrecken sich dabei über Notfall- und Krisensituationen hinaus auf den gesamten Bereich der Gesundheitsversorgung. Safety-I und Safety-II ergänzen sich und sollten idealerweise zu einer Gesamtlösung kombiniert werden.

Fazit

Fazit In einer komplexen Welt vertragen sich hohe Anforderungen und Erwartungen an die Versorgung nicht mehr mit überkommenen Lösungsansätzen. Sicherheit bedeutet nicht nur die Abwesenheit unerwünschter Ereignisse, sondern gerade auch die aktive Fähigkeit, Sicherheit zu erzeugen, insbesondere in unerwarteten kritischen Situationen und unter Druck. Statt immer umfangreicherer Standardisierung und der Jagd nach menschlichen Fehlern müssen wir die Quellen für Resilienz identifizieren und sie in unseren Prozessen stärken. Ein erprobtes Hilfsmittel dafür ist die FRAM aus dem Methodenrepertoire von Safety-II. Dabei erweitert die Durchführung einer FRAM das Verständnis der Funktionsweise komplexer soziotechnischer Systeme erheblich und stellt damit ein wertvolles neues Instrument zur Identifikation von spezifischen Ansatzpunkten zur Erhöhung der Resilienz dar.

Literatur 1. Speer, T., Mühlbradt, T., Fastner, C. et al. (2023) Safety II: ein systemischer Ansatz für ein eff ektives klinisches Risikomanagement. Anaesthesiologie 72, 48–56. 2. Speer, T., Mühlbradt, T., Unger, H. et al. (2024) Komplexe Prozesse besser verstehen – eine alltagsbezogene Fallstudie zur Erhöhung der Patientensicherheit und Eff ektivität in einem Zentral-OP. Anaesthesiologie 73, 232–243.

Eine kompakte Einführung und Übersicht zu Safety-II bietet das Buch von Mühlbradt, T., Schröder, S., Speer, T. (2024) Safety-II: Neue Wege zur Patientensicherheit. Strategien, Methoden und praktische Erfahrungen. Wiesbaden: Springer Gabler.

Korrespondierender Autor
Prof. Dr. med. Stefan Schröder, MHBA Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie Artemed Krankenhaus Düren
stefan.schroeder@krankenhaus-dueren.de

Weitere Informationen

Veralteter Browser

Sie verwenden einen veralteten Browser. Die korrekte Darstellung der Webseite ist nicht garantiert und die Bedienung ist eingeschränkt bis hin zu nicht bedienbar.